Text und Bilder von Nancy Cott
Man erinnert sich gut an die Situation vor ein paar Monaten, als der Lichtenberger Bahnhof ein Übernachtungscamp für obdachlose Menschen war. Mein täglicher Weg zur S-Bahn war gesäumt von unzähligen Matratzen und Schlafsäcken. Es schossen mir immer wieder die gleichen Fragen durch den Kopf. Was treibt Menschen in die Obdachlosigkeit? Wie gerät man auf die schiefe Bahn? Wie kann man wieder herausfinden? Ich stelle Kontakte her zu Leuten, die es wissen müssen. André Hoek, selbst obdachlos gewesen und nun Streetworker. Oder Maik Eimertenbrink, der Initiator der Obdachlosen-Uni Berlin.
Ich bin an einem Samstagnachmittag mit ihnen verabredet. Sie haben sich extra für mich Zeit genommen und erwarten mich bereits, als ich den vereinbarten Treffpunkt erreiche. Es ist die Wohnungslosenunterkunft in der Paul-Gesche-Str. 9, eine Wohnungsloseneinrichtung für circa 150 Bewohner*innen. Nach einer kurzen Begrüßung bitten mich die Männer herein. Wir nehmen Platz in einer gemütlichen Sitzecke. Dort sitzt noch ein dritter Mann, Heiko, selbst Bewohner des Wohnungslosenheims und bereit, spontan am Gespräch teilzunehmen.
Der Raum, in dem wir sitzen, ist so etwas wie der Aufenthaltsraum für die Bewohner. Er hat eine Mischung aus rustikalem Lokal der 1970er-Jahre und einem alten Jugendclub. Kunstledersofas, Tische aus Omas Wohnzimmer, einige Pflanzen, einen Fernseher, einen Flipper, einen Dartscheibenautomat und diverse Sportgeräte gibt es dort, Boxsack, Rudergerät oder Trimmer. Auf meine Frage, ob die Gerätschaften viel in Anspruch genommen werden, höre ich ein gemeinschaftliches “Ja!”.
Die Chemie stimmt und wir legen direkt los mit unserem Gespräch. Ich befrage André zu seiner Geschichte. Er antwortet mir schmunzelnd, er habe sie schon oft erzählt und unterhält mittlerweile sogar einen eigenen Blog zum Thema. Sein früheres Leben gleicht einem aus dem Bilderbuch. Er arbeitet damals selbstständig als Webdesigner auf Gran Canaria, wohnt in einer schicken Villa am Meer, genießt das Leben unter der Sonne, direkt am Strand und mit einer schönen Frau an seiner Seite. Plötzlich der harte Schnitt. Seine Frau verlässt ihn. André tröstet sich in Alkohol, vernachlässigt Arbeit und Kund*innen. Bald ist nicht nur die Frau weg, sondern auch der Job und die Villa. André kann die Miete nicht mehr zahlen und kauft sich vom letzten Geld ein Flugticket zurück nach Deutschland. Er hofft, durch das Sozialsystem rasch wieder auf die Beine zu kommen. Doch es gelingt ihm nicht. Er findet so schnell keine Wohnung und sich selbst plötzlich auf der Straße wieder. Nun wird es richtig hart. Denn wer erst einmal dort landet, dem fällt es schwer, diesem Teufelskreis zu entfliehen. Auch André ergeht es so. Er muss zusehen, wie er eine halbwegs trockene Stelle findet, Brücken, Bänke, Bahnhöfe – alles was sich irgendwie eignet, um wenigstens ein paar Stunden schlafen zu können. Besonders hart sind die kalten Winternächte, in denen sich die klirrende Kälte durch sämtliche Kleidungsstücke in die Knochen frisst. Kaum auszuhalten. André steht mehrmals kurz vor dem Erfrierungstod. Er wird gerettet, aber es war knapp. Einmal so knapp, dass er mehrere Tage im Koma liegt. Sein Gesamtzustand wird so schlecht, dass er sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen kann. Sein einziger Trost: der Alkohol und ein paar Leidensgenossen. Doch er hat sich längst aufgegeben, will nicht mehr leben. Es ist eine glückliche Fügung, die seinem Leben die entscheidende Wende gibt, sie ist weiblich und Streetworkerin. Anfangs lehnt André ihre Hilfe ab. Doch irgendwann lässt er sich darauf ein. Sie verschafft ihm den nötigen Durchblick im Behördendschungel, wodurch er eine Wohnung und finanzielle Unterstützung beantragen kann. André kämpft sich zurück ins Leben. Das ist schwer, aber er bleibt dran. Auch laufen kann er mittlerweile wieder. Nun arbeitet er selbst als Streetworker und versucht anderen wohnungslosen Menschen in Berlin zu helfen. Unter anderem hat er das Projekt „Kältebahnhof Lichtenberg“ initiiert und war Ansprechpartner vor Ort. Als „Ehemaliger“ kennt er viele Betroffene persönlich, die gängigen Probleme, Nöte, Sorgen, Ängste wie kein anderer – und sogar deren Slang. So spendiert er Heiko spontan einen „Zwilling“, Fachjargon für eine Zwei-Euro-Münze. Aber auch Aufklärungsarbeit leistet André. Er gibt für Interessierte Vorträge zum Thema Obdachlosigkeit in ganz Berlin. Auch im Anschluss an unser Gespräch hat er wieder einen Termin, diesmal in einem Nachbarschaftsheim in Wilmersdorf. Deshalb muss er auch gleich los.
Wir kommen zu Heikos Geschichte, die Parallelen zu der von André aufweist. Heiko lebte zwar nicht auf den Kanaren, aber auch er führte ein geregeltes Leben und hatte ein gutes Auskommen, reparierte Maschinen und war viel auf Montage. Irgendwann kam er nach Hause und seine Frau war weg. Die gemeinsamen Kinder und die Wohnungseinrichtung hatte sie mitgenommen. Dadurch verlor Heiko den Halt. Auf meine Frage, ob Trennung vom Partner oder von der Partnerin oft der Grund sei, warum Menschen ins Ungleichgewicht geraten, stimmen alle zu. Heiko ist froh, dass seine Sozialarbeiterin für ihn kurzfristig einen Platz in der Einrichtung gefunden hat und er nicht auf der Straße schlafen muss. Er wohnt seit anderthalb Jahren hier und teilt sich das Zimmer mit einem Mann aus Portugal. Doch die schlechten Erfahrungen „draußen“ hat er trotzdem gemacht. Pöbeleien und abschätzige Blicke von anderen, Nicklichkeiten von Polizei und Behörden, Abweisungen in der Notaufnahme, selbst wenn die betroffenen Personen orientierungslos scheinen, das sind nur einige Beispiele, von denen mir André und Heiko berichten.
Die Obdachlosen-Uni
Auch Maik hat davon gehört. Er selbst war nie wohnungslos, hat aber sehr viel Kontakt zur Szene, seit er 2011 die Obdachlosen-Uni gegründet hat. Mitgebracht hat er die Idee von einem Aufenthalt in Graz. Er wunderte sich, dass es ein solches Projekt in Berlin noch nicht gab und hat dies dann kurzerhand selbst gegründet.
Die Obdachlosen-Uni ist eine mobile Einrichtung, die wohnungslosen und sozial benachteiligten Menschen Bildungsangebote gratis zur Verfügung stellt. Die Kurse finden quer über die Stadt verteilt statt. In Räumlichkeiten, die kostenfrei genutzt werden können.
Es handelt sich vorrangig um Kurse von Wohnungslosen für Wohnungslose. Das war die Grundidee. Aber auch Menschen, die eine Wohnung haben, können teilnehmen. Und jeder kann sich ehrenamtlich einbringen, ob als Dozent*in oder als Raumvermittler*in. So gibt etwa ein Polizeischüler Kurse, in dem er über Rechte und Gesetze aufklärt und was man beim Umgang mit der Polizei wissen sollte. Was darf die Polizei, was darf sie nicht? Weiterhin gibt es Kochkurse, Theaterkurse, Musikkurse und sogar eine Laufgruppe.
Ich habe an diesem Nachmittag viel erfahren, nicht nur über Umstände rund um das Thema Obdachlosigkeit, sondern auch wie Leute immer wieder Engagement beweisen, um Menschen, denen es nicht so gut geht, am kulturellen und sozialen Leben teilhaben zu lassen und ihnen sogar einen Ausstieg aus der Wohnungslosigkeit zu ermöglichen. Wenn Sie, liebe Leser*in, etwas besonders gut können oder kennen und Ihr Wissen gern weitergeben möchten oder jemanden kennen, der das gern tun würde, sind Sie herzlich eingeladen, sich an diesem wundervollen Projekt zu beteiligen. Alle Kontaktdaten finden Sie im Internet unter: www.obdachlosen-uni-berlin.de.
Bedürfnisse der Obdachlosen: Essen, Schlafen, Waschen – Wo in Lichtenberg?
Von Yvonne GrossEs gibt einen Unterschied zwischen wohnungslos und obdachlos. Wer wohnungslos ist, ist nicht automatisch obdachlos. Wenn diese Person beispielsweise in einer Notunterkunft einen Schlafplatz findet oder vorerst bei Freunden oder Bekannten unterkommt, dabei handelt es sich um eine sogenannte „verdeckte Wohnungslosigkeit“.
- Bedürfnisse wie Deine und meine – Essen, Schlafen, Waschen, was für die meisten von uns wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist es für 10.000 Menschen nicht.
- Laut Schätzungen von Wohlfahrtsverbänden, (eine offizielle Statistik gibt es nicht) leben in Berlin zwischen 6.000 und 10.000 Menschen auf der Straße, sie sind obdachlos.
- Die Zahl der Wohnungslosen ist weitaus höher, der Senat von Berlin schätzt, dass circa 50.000 Berliner keine Wohnung haben, nicht alle davon leben auf der Straße.
- Im Jahr 2017 waren allein im Bezirk Lichtenberg (laut Angaben des Bezirkes) 1.572 Menschen wohnungslos, darunter zahlreiche Familien mit Kindern.
- In Berlin gibt es circa 7.000 Plätze zur Unterbringung von wohnungslosen Menschen.
- Ein Problem stellt das sehr differenzierte Hilfesystem für Wohnungslose dar.
- Es fehlt eine Planungsgrundlage für die gesamte Stadt.
- Es fehlt eine offizielle Statistik, um gezielte und punktuelle Hilfsangebote für die Betroffenen zu entwickeln
- Laut www.obdachlosinberlin.de. stellt der Berliner Senat jährlich nur circa 270.000 Euro für die medizinische Versorgung obdach- und wohnungsloser Menschen zur Verfügung.
- Hinzu kommt, dass nicht jedes Krankenhaus obdachlosen Menschen hilft, weil diese Menschen oftmals nur unzureichend den hygienischen Ansprüchen der Krankenhäuser genügen oder die Furcht vor Keimen, bei den Krankenhäusern zu groß ist.
SOZIALPROJEKT LICHTENBERG
Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot
Schottstraße 610365 Berlin-Lichtenberg
Telefon: 030-55 00 91 18
Telefax: 030-55 00 91 28
Beratungszeiten:
Dienstag und Donnerstag von 10 bis 13 Uhr. Sie können auch andere
Termine vereinbaren!
BERATUNG BEIM SOZIALAMT
Amt für Soziales
Alt-Friedrichsfelde 6010315 Berlin
Telefon: 030-90 29 68 33 5
Telefax: 030-90 29 68 69 9
Beratungszeiten:
Dienstag und Donnerstag von 9 bis 12 Uhr