Tiny-Houses vor IKEA-Lichtenberg wollen Dorf werden. Van Bo Le-Mentzel experimentiert mit sozialer Nachbarschaft

Text und Fotos von Thomas Potyka

Wohnraum wird immer knapper. Wir müssen dichter zusammenrücken. Dennoch wollen sich viele mit einem Haus selbstverwirklichen. Kann man sich das in einer Stadt heute noch leisten? Der Karma-Ökonom und Konzept-Künstler Van Bo Le-Mentzel versucht mit seinem Projekt Tiny House Ville auf dem Parkplatz vor Ikea-Lichtenberg Antworten zugeben, wirft dabei aber auch viele Fragen auf.

Tiny- oder Small-House-Movement – das ist eine Bewegung weg von bombastischer Behausung hin zu Minihäusern mit weniger als 15 Quadratmetern Grundfläche. Geschickt eingerichtet kann sich indessen eine fast doppelt so große Wohnfläche ergeben. Geschlafen wird oben. Gekocht in einer Nische darunter. Regal und Arbeitstisch sind eins. Zwischenwände entpuppen sich als Türen. Spiegel täuschen Raum vor, den es nicht gibt und mit etwas Tetris finden auch Gäste ihren Platz. Die Minihäuser werden zumeist auf Anhängern gebaut, sind also flexibel und streben eine sowohl autarke als auch nachhaltige Bewirtschaftung an. Die Baukosten für ein rollendes Appartement belaufen sich auf 5000 Euro aufwärts.

Leben auf kleinstem Raum

Darum geht es dem Architekten Van Bo Le-Mentzel: Leben und Raum. Wie viel Raum brauchen wir? Wo und wie wird er von wem eingegrenzt, wenn wir ihn nicht gerade selbst mit Statussymbolen vollstopfen? Was ist lebenswert und was hat das mit Würde zu tun? Le-Mentzel versteht seine Projekte als Kritik am Wohnungsbau. Sie sollen anregen, über den eigenen Lebensstil und über den unserer Mitmenschen nachzudenken. Jeder, so heißt es im Leitbild der von ihm geführten und in diesem Jahr gegründeten tinyfoundation, hat das Recht auf Stadt und Gemeinschaft. Unabhängig von Herkunft und Status und weitgehend unabhängig vom Geld. Ein eigenes Haus mit stilvoll eingerichtetem Lebensraum muss nicht nur besser situierten Menschen vorbehalten bleiben.

Aufsehen erregte Van Bo Le-Mentzel mit seinen „Hartz IV-Möbeln“, etwa dem „24-Euro-Chair“, mit fair produzierten Turnschuhen, deren Fußabdrücke gutes Karma hinterlassen oder mit der 100-Euro-Wohnung im „Tiny100“ in der man auf 6,4 m² für einen Hunderter warm leben könne. 2015 eröffnete er mit einem Gestalter-Kollektiv die Tinyhouse-Universität. Zwei Jahre später gründete er am Bauhaus-Archiv in Berlin für seine Tiny-Houses einen Bauhaus Campus. Letztes Jahr gab es das Tiny-Town-Urania-Festival und nun stehen sechs kleine Häuser auf dem Parkplatz vor Ikea-Lichtenberg.

  

Die Häuser bilden zum Teil bekannte Gebäude nach. So etwa das Brandenburger Tor alias „Tiny Temple“ und den maßstabsgetreu replizierten Werkstattflügel des Bauhauses in Dessau, genannt „Wohnmaschine“. Anbei das „Tito-House“, das „New Work Studio“ und es fehlt auch nicht das „Tiny100“. Neu und besonders ist das „Haus der Würde des Menschen“, das aus dem Plänterwald gekarrt wurde. Der Aussteiger Tom Pollhammer lebte darin mehr als acht Jahre, bis das Forstamt darauf aufmerksam wurde und ihn des Waldes verwies. …jeder hat das Recht auf Stadt und Gemeinschaft. Auch Obdachlose, Rente beziehende Mülleimerwühler, Freigeister; genauso wie Menschen mit höherem Einkommen – einfach jeder, so die Philosophie der tinyfoundation. Die Durchmischung macht´s.

Ein eigenes Haus für 11.000 Euro

Wie man zu einem Tiny-House kommen kann, wie man darin leben könnte und welches Gewicht der Häuserbau in einer Stadt für sozialverträgliche Nachbarschaften hat, gehört zu den Schwerpunkten der Ausstellung Tiny House Ville auf 15 Parkbuchten vor Ikea. Man kann sich sogar für eine Nacht zum Probeschlafen anmelden. Es soll grundgelegt, gemeinsam nachgedacht und beraten werden. Außerdem spielt Partizipation eine wesentliche Rolle in dem zu begreifenden Konzept. Mit drei Freunden könne man hier ein Minihaus in nur elf Tagen aufbauen. Für 11.000 Euro (zuzüglich Mehrwertsteuer). Le-Mentzel kokettiert mit solchen Zahlenspielen. Die Ikea-Filiale würden täglich 11.000 Menschen besuchen. Der 24-Euro-Stuhl wäre in 24 Stunden fertig aufgebaut.

Funktional muss es sein. Die Form ist untergeordnet, genauso wie im Bauhaus-Stil, an dem Van Bo Le-Mentzel sich orientiert. Die Bauhausmeister schufen für den „Volksbedarf“, ausgerichtet an demokratischen Ideen. Die flächendeckende Volksversorgung wurde möglich durch ein Höchstmaß an Funktionalität bis hin zur Uniformierung, die schließlich Platte für Platte in Beton gegossen wurde. Doch selbst die hochgeschossigen Wohnsilos können den heute immens gestiegenen Wohnungsbedarf wachsender Städte nicht mehr auffangen und so schnellen auch dort die Mieten in die Höhe. Ein Haus für 11.000 Euro entspricht elf Monatsmieten à 1000 Euro oder knapp zwei Jahren Wohnen zur durchschnittlichen Miete einer 30 Quadratmeter-Wohnung. Das scheint lukrativ zu sein, aber funktioniert das wirklich?

In Deutschland darf man einen Wohnwagen nicht einfach so zurechtzimmern und irgendwo aufstellen. Darin wohnen schon gar nicht. Erst einmal muss die ganze Konstruktion von der DEKRA oder dem TÜV abgenommen werden und straßenverkehrstauglich sein. Für unter zehn Quadratmeter Fläche ist die Straßenverkehrsordnung zuständig, sprich für das, was in eine Parklücke passt, für alles darüber das Baurecht. Selbstverständlich wird die Statik geprüft. Dann muss nachgewiesen werden, dass die Wasserzu- und -abläufe korrekt verlaufen, die Stromversorgung genormt und die Müllentsorgung geregelt ist, und will man obendrein einen Ofen installieren, gar noch in einem Holzhaus, dann stehen der Bezirksschornsteinfeger und der Brandschutz auf dem Plan. Mühselig. Also doch besser auf den Campingplatz? Le-Mentzel wünscht sich einen extra Parkausweis für Tiny-House-Bewohner. Denn wie gesagt, man darf in Deutschland nur mit Sondergenehmigung in einer mobilen Behausung schlafen und die ist unter anderem Wanderarbeitern aus der Landwirtschaft vorbehalten. Aber Berlin ist ja ein Dorf.

Rollende Dörfer

Die Antwort auf die Frage, ob man es sich auf so wenig Quadratmetern lebenswert einrichten könne, initiiert der Querdenker Le-Mentzel, der selbst mit Frau und zwei Kindern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung auf 56 Quadratmetern wohnt, indirekt. Wem es zu eng wird, der kann ja rausgehen und Menschen begegnen. Erst der Austausch zwischen unseresgleichen macht das Leben doch wertvoll. Einem Tiny-Häusler sollte zwar eine geringfügig erweiterte Wohnfläche zur Verfügung stehen, um für sich zum Beispiel einen Tisch und eine Bank aufzustellen, elementar für einen Small-House-Human sei jedoch ein so genannter Co-Being-Space. Nennen wir ihn der Einfachheit halber Dorfplatz. Le-Mentzel idealisiert mit Tiny House Ville die gute alte Village-Gemeinschaft, in der jeder etwas Wichtiges kann und darum gebraucht wird, wo man sich noch über den Weg läuft, thinktank-mäßig klatscht und tratscht, gemeinsam kocht, arbeitet und spielt… Hach, Platz ist in der kleinsten Hütte. Wenn es nach Le-Mentzel geht, sollen es noch viel mehr Hütten werden. Er würde sich über ein Kaffee-Häuschen, einen Bäckerhänger oder einen rollenden Kiosk freuen, damit Dorf und Gemeinschaft wachsen.

Dieses Experiment also wagt Van Bo Le-Mentzel auf dem Ikea-Gelände. Die Ikea-Stiftung unterstützt das Projekt bis zum Sommer und sieht sich als Gastgeber, so Daniel Zellmer, der Marketingchef der Stiftung. Immerhin gelte es, 100 Jahre Bauhaus zu feiern, wird in Anspielung auf die „Wohnmaschine“ argumentiert. Auf der Internetseite der Ikea-Stiftung liest man von einer kritischen Haltung gegenüber den stark gestiegenen Mietpreisen, die viele Menschen ins Abseits katapultieren. Darum sympathisiert Ikea mit kreativen Lösungsansätzen, die auf den Zeitgeist reagieren und den eher engen, platzoptimierten, aber dennoch gemütlichen Wohnbeispielen auf der Verkaufsfläche in gewisser Weise gleichkommen. Außerdem trachtet der Möbelriese danach, sich ein grünes Image zu geben und fördert die Entwicklung und Umsetzung der Tiny-House-Projekte mit 60.000 Euro. Entwicklung muss nach vorne gehen, spornt der familienfreundliche Konzern seine Käuferschaft an und so entspricht das Tiny-House-Movement Ikeas Du-noch-oder-schon-Ideologie, die letztlich auch erst selbst aufgebaut verwirklicht wird.

Wie wollen wir wohnen?

Van Bo Le-Mentzel forciert eine lebendige Stadtgemeinschaft, die nichts weniger als kommunal intelligent sein soll; eine nachbarschaftsorientierte Gemeinschaft, die ihre lebenswerte Zukunft selbst in die Hände nimmt und darum auch künftig dort leben will, wo sie bewahren und gestalten kann. Allerdings verstehen das nicht alle. An den Holzpanelen des „Tiny Temples“ findet man kritische Notizen wie „Verkauft das woanders!“, „Zynische Wohnpolitik“, „Schämt Euch“ oder „Mussein?“. Die Forderung, den Reichen müsse weggenommen werden und gar ein Aufruf zur Brandstiftung im Namen des heiligen Florian schelten das Tiny-House-Projekt. Die anarchischen Schmähungen charakterisieren den Druck und den Groll bestimmter Teile der Bevölkerung unter dem Geschiebemergel der kühlen Gentrifizierung. Aber warum die Aufregung aus dieser Ecke? Die tinyfoundation setzt sich ein für Kältehilfe und finanzierbare Mieten. Le-Mentzels Idee ist vielleicht nichts weniger als eine moderne Wagenburg. Bretterverschläge mit Stil. Eigentlich neuer Wein in alten Schläuchen. Genauso wie Ikeas Designadaptionen aus den 60ern und 70ern.

Klickt man sich durch die Anmerkungen unter den Tiny-House-Artikeln, begegnet man neugierigen Kommentaren, in denen von Interesse und Befreiung die Rede ist, aber auch dystopischer Skepsis, die vor Käfighaltung und Wohnklos warnt. Liegt die aggressive Abneigung an den Movement-Anglizismen? Obwohl „Fuck Hipsta“ ja auch irgendwie englisch ist… Aber Sprache ist eben nicht gleich Sprache. Natürlich muss man sich fragen, wo in einem 8 Quadratmeter kleinen Wohnwagen ein alleinerziehendes Elternteil seine zwei Kinder durch einen Ikea-Spieltunnel robben lassen soll. Was ist mit Barrierefreiheit? Welche Bedeutung haben Freiheit und Rückzugsraum im Spannungsfeld zwischen privat und öffentlich am Straßenrand der Gesellschaft? Aber das alles kann man in Tiny House Ville von Angesicht zu Angesicht erörtern. Respektvoll und „…auf gute Nachbarschaft!“ Karma-Ökonomie will nicht das Bruttosozialprodukt erhöhen, sondern gutes Karma für sich und seine Mitmenschen produzieren, sagt Van Bo Le-Mentzel.

Projekte wie Tiny House Ville sind vorauseilende und immer überfällige Provokation. Das ist wichtig, denn wir sind alle herausgefordert, wenn wir als Nachbarschaften künftig miteinander ein gutes Leben führen sollen.

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