TEXT VON HANNELORE DEHL

An der Franz-Jacob-Straße steht ein alter Baum, der so manche Geschichte erzählen könnte.

Heute ist Donnerstag, ein Markttag im Oktober. Sie steht in der Franz-Jacob- Straße 16/18. Hinter ihr die Geräusche einer vorbeifahrenden Straßenbahn. Ein Wurstverkäufer bietet Spezielles Fränkischen und Vogtländischen an. Aus dem Verkaufswagen strömt intensiver Geruch von Gewürzen sowie gekochtem und gepökeltem Fleisch in ihre Nase. Aber sie interessiert sich nicht für einen Brotbelag, vielmehr für ein Schild hinter dem Markt. Eine Eule mit der Aufschrift „Naturdenkmal“ steht an dem Zaun, der das Kitagelände einfasst. Das Schild will auf die dahinter stehende Kastanie aufmerksam machen – auf ihr Alter, ihr weit ausladendes Geäst, ihre prächtige Statur. Auch der Name der Kita „An der alten Kastanie“ bezieht sich auf dieses wunderschöne Seifenbaumgewächs. Mitten auf dem Spielplatz steht sie. Darunter eine Kiste an ihrem Stamm mit Buddeleimer und Förmchen darin, Kinder, die auf Deutsch und Vietnamesisch schwatzen oder über den Spielsand hüpfen, der ihre Wurzeln bedeckt.

Man steht vor dem Zaun und denkt: die Kastanie wird es freuen – jeden Tag dieses Kinderlachen, die Kleinen, die versuchen, ihren Stamm zu umfassen und es nur zu zweit oder zu dritt schaffen, Kinder, die Blätter sammeln, die wie eine Hand aussehen, und im Herbst ihre Früchte aufheben, um etwas zu basteln. Erinnern Sie sich an ihre Kindheit zurück und wie Sie mit Streichhölzern Kastanienmännchen haben entstehen lassen. Wie verrückt ist denn, dass bereits seit 1965 jährlich Conkers (Kastanien)-Weltmeisterschaften ausgetragen werden. Das Spiel geht so: In Großbritannien und Irland binden Kinder Kastanien an Fäden. Ein Kind lässt seine Kastanie am Faden hängen, während ein zweites Kind seine Kastanie auf die hängende Kastanie schleudert. Wenn eine der Kastanien beim Zusammenprall zerbricht, gewinnt das Kind mit der unbeschädigten Kastanie einen Punkt.

Aus Kastanien kann man aber noch vieles mehr machen. Es ist nachzulesen, wie aus ihnen in Kriegszeiten Seifenpulver hergestellt wurde oder sie als Mehl- und Kaffeeersatz dienten. Heute sind sie für die pharmazeutische Industrie interessant. Der Inhaltsstoff Saponin hat eine abschwellende Wirkung und wird als Basis für die Herstellung von Medikamenten gegen Gefäßerkrankungen verwendet. Mit Kastanien werden auch vor allem Wildtiere gefüttert.

Wenn man abergläubisch ist und sich vor rheumatischen Krankheiten und Gicht schützen möchte, soll es genügen, drei Kastanien bei sich in der Tasche zu tragen.

Historisch gesehen ist die Rosskastanie schon sehr lange in Mitteleuropa angesiedelt. Sie gelangte mit den Osmanen hierher, die die Kastanien als Pferdefutter nutzten. Der erste Bericht stammt vom kaiserlichen Gesandten aus Konstantinopel 1557. Ende des 17. Jahrhunderts war sie der Lieblingsbaum des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Viele Fürsten ließen sich von seiner Vorliebe anstecken und in ihren Gärten und Alleen Kastanien pflanzen. Der Baum wird heute gerne in Erholungsanlagen gepflanzt, als Schattenspender etwa in Biergärten geschätzt oder als Zier- und Straßenbaum gesetzt.

Eine Rosskastanie kann bis zu 300 Jahre alt werden. Diese hier im Wohngebiet des Fennpfuhl hat vor 100 Jahren die beginnende Industrialisierung von Berlin erlebt; als kleine Frucht in die Erde gefallen und gekeimt oder von den Besitzern des angrenzenden Lederkontors gepflanzt, die 1905 hier ein Haupt- und Nebengebäude errichteten. Zwei Denkmale so nahe beieinander. Im Hauptgebäude findet sich jetzt eine Spielothek, im Nebengebäude lässt es sich altersgerecht wohnen.

50 Jahre nach der Pflanzung der Kastanie beginnen wieder Bauarbeiten – das Wohngebiet des Fennpfuhl entsteht. Rechts neben der Kastanie ragt ein 20-geschossiges Wohnhaus in die Höhe und linkerhand führt ein Spazierweg am Kontor vorbei geradewegs zum Anton-Saefkow-Platz. Das Wohngelände hat Weite, viel Grün und eine ruhige Atmosphäre. Jung und Alt sieht sie hier spazieren gehen; sie kommen von der Schule, gehen in die Kaufhalle, treffen sich auf einen Plausch im Café nebenan oder im Asia-Imbiss.

Trotz Bauarbeiten blieb die Kastanie stehen. Vielleicht hatte damals schon ihre Stattlichkeit beeindruckt oder der Untergrund war für Wohnbauten nicht tragfähig genug. Die Rosskastanie reiht sich in den unweit gelegenen Fennpfuhlpark ein und gehört zu seinen etwa 1200 Bäumen doch nicht ganz dazu. Der Bürgerverein Fennpfuhl e. V. bietet hier Baumwanderungen an, und wie schön wäre es doch, wenn die Rosskastanie wertschätzend mit einbezogen würde. Das würde sie sich wünschen.

Foto: Fiona Finke

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